Spiegelbild

Es heißt, Menschen kann man, wenn sie älter werden, die Reife und ihre Weisheit ansehen. Die Falten erzählen von gemachten Erfahrungen. Die Augen von schönen Erinnerungen. Und sogar jedes graue Haar hat seine Geschichte. Angeblich.

Zumindest die letzte Theorie glaube ich. Linda ist unglaublich grau geworden, seitdem ich sie das letzte Mal gesehen habe. Das ist jetzt Jahre her. Aber, auch wenn das Alter sie sichtlich gezeichnet hat, die Spuren von Würde, die sich Menschen für ihr Alter versprechen und wünschen, kann ich nicht finden.

Sie sitzt in ihrem Lieblingssessel, ganz wie sie es damals jeden Abend getan hat. Nur der Kater ist natürlich längst nicht mehr auf ihrem Schoß. Dafür strickt sie, noch immer. Vermutlich der 5000. Schal oder einfach ein paar Socken. Schritte im Hausflur, eine Autotür draußen auf der Straße oder einfach nur das Geräusch von irgendjemandem, der seine Schlüssel zur Hand nimmt – alles lässt sie aufhorchen und ihren Kopf ein wenig drehen, so, dass ihr linkes Ohr mehr zur Wohnungstür gewandt ist. Sie lauscht dann. Manchmal nur einen Augenblick. Manchmal minutenlang. Natürlich passiert nichts. Letztendlich nimmt sie mit einem müden Lächeln ihr Strickzeug wieder auf und strickt weiter. Früher habe ich bei dieser Geste immer halb lächerlich, halb abwertend gedacht, sie wolle das bis an ihr Lebensende so halten. Heute kann ich darüber nicht mehr lächeln oder es albern finden – weil sie es verdammt nochmal bis an ihr Lebensende so hält.

Angekommen bin ich erst heute. Mein erster Weg führte hierher. Um sie zu sehen. Aber heute Nacht kann ich hier nicht bleiben. Die Gesetze verlangen es anders. Gesetze… Aber hält man sich an dieses nicht, ist man leicht seinen Kopf los. Und ohne Kopf nutze ich weder ihr noch mir selbst.

Verdammt! Früher hatte ich mir eingeredet, ich könne diese Tür nicht öffnen. Ich würde ihr das Herz brechen, würde ich ihr sagen, wo ich war. Und mit wem. Ich habe sie jahrelang so sitzen sehen. Hatte geglaubt, sie würde irgendwann jemand anderen finden. Und habe mich so erbärmlich in ihr geirrt.

Heute weiß ich, wie sehr ich ihr Unrecht damit tat. Mehr als alles andere will ich diese Tür aufreißen und ihr sagen, dass es mich immernoch gibt. Aber genau das kann ich nicht tun. Denn sie würde keinen alten Mann sehen, sondern den Mann erkennen, der damals nicht zurückkehrte. Auch dafür würde ich meinen Kopf verlieren.

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