Die Nacht war bereits weit fortgeschritten, als sich Nate auf der Staufenburg einfand. Kein Domänenabend. Damit also keineswegs eine der Nächte, in denen der Senator pflegte auch nur ansatzweise an soetwas wie formelle Kleidung zu denken. Hier, auf diesem Boden jedoch, war das etwas anderes. Wie an den Versammlungsabenden erschien er in Anzug und Krawatte, das Schwert am Revert, die Senatorenkette um den Hals. Der Hut jedoch fehlte. Und die Augenklappe war schlicht und schwarz, an Stelle der sonst eher auffälligen Varianten.
Es dauerte nicht lange, bis Herr Gracht ihm entgegen kam. Wie zu erwarten. Der Mann hatte, Greg nicht völlig unähnlich, die beunruhigende Angewohnheit das Verhalten der ihn umgebenden Untoten bemerkenswert voraussagen zu können. “Wenn es möglich ist, würde ich gerne ein paar Minuten in das Arbeitszimmer des Prinzen. Keine Sorge, ich werde nichts anfassen und mich nicht umsehen.”, erklärte der Toreador mit für ihn zu leiser Stimme als sich Gracht erkundigte, was ihn überhaupt hergeführt hatte. Der Andere schien ohne ein weiteres Wort zu verstehen welcher Natur dieser Besuch genau zu sein schien.
***
Alles war wie immer. Er hatte dieses Arbeitszimmer nie in einem anderen Zustand erlebt. Dabei war er noch gar nicht so oft hier gewesen. Eine Art Gewohnheit hatte sich dennoch eingestellt. Und nun? Nun war es fast schon beleidigend wie unglaublich alltäglich, friedlich alles in diesem Raum auf ihn wirkte. Alles. Außer der Tatsache, dass die Frau auf dem Stuhl fehlte.
Hinter ihm stand die Tür einen Spalt weit auf. Die Vermutung lag nahe, dass Gracht irgendwo in der Nähe stand. Nur für den Fall, dass der Gast irgendetwas benötigte. Oder auch einfach nur um zu hören, was in dem Raum vor sich ging. Gleichgültig. Es machte nur sehr bedingt Sinn vor diesem Mann Geheimnisse zu haben.
Langsam trat er um den Schreibtisch herum, strich im Vorbeigehen mit den Fingerspitzen über das Möbelstück. Einen Moment lang schoss ihm die Frage durch den Kopf wieviele Erinnerungen daran wohl hängen mochten. Oder ob man es einfach schon zu oft ausgetauscht hatte und es damit im wesentlichen seinen eigenen Charakter längst verloren hatte.
Ausatmend schob er die Gedanken beiseite. Er war nicht für die Möbel hier. Nicht für Gracht. Nicht für die Domäne.
Vor dem Stuhl angekommen starrte Nate das leere Möbelstück eine Weile an. Wie hatte sie dagesessen, als er sie das letzte Mal gesehen hatte? Warum hatte er so wenig von dem gesagt, was eigentlich nötig gewesen wäre? Wichtiger: Warum hatte er sie nicht aufgehalten? Die Worte, die ihren Weg nach Koppenhagen gefunden hatten… Hätte er sie nicht viel eher an den Prinzen richten müssen? Vielleicht hätte das alles geändert…
Er schüttelte erneut über sich selbst den Kopf. Dann schloss er das Auge, dank auf ein Knie.
“I can’t hold her together… I’ve tried… I am trying…” Ein überflüssiges Durchatmen später hob er den Kopf und sah den leeren Stuhl an, versuchte im Dunkel die Person zu erspähen, von der er wusste, dass sie nicht da war.
“All evaluations are through. I can’t do this on my own. And those that are my equals are… flawed.” Fehler. Die hatte er auch. Andere Fehler. Der wichtigste Fehler: Das Gesamtkonstrukt nicht so verändern zu können, dass es funktionierte. Auf unbestimmte Zeit einfach weiter funktionierte. “Thomas is – he is – uncoordinated. Half the time he won’t listen. The other half he’s too angry to. I know that he’s trying hard to be good. That all he really wants is follow your order. Yet he’s no longer capable of doing that.” Vielleicht war es sogar ein Wunder, dass sie sich noch nicht an die Kehle gegangen waren.
All das. Wäre es besser gewesen er hätte viel früher angefangen Verantwortung für etwas zu übernehmen? Er hätte schneller mit der Situation wachsen müssen. “And Jacques…” Zur Hölle! Für all das, was er dem Mann angetan hatte um das zu sein, was nötig war, würde kein Gott den sich Menschen je erdacht hatten jemals Vergebung gewähren. Und er konnte sich noch nichteinmal wirklich schlecht dafür fühlen. Warum auch? Er hatte versprochen, allen versprochen dass er genau das tun würde. Ohne Reue. Wenn da nur nicht diese Irritation darüber wäre diese Reue auch tatsächlich nicht zu empfinden. “He can’t pull it off. To be prince, even to be senator you have to have a certain conviction. You need something that drives you. A spark. Something that keeps you going, even when you think you don’t have anything left within you anymore. Right now he’s moving. But it’s just the wind blowing him about. It’ll end soon enough. And he will never actually enjoy doing this. And part of you, no matter how small, absolutely has to enjoy it. Otherwise you’re dead meat. And everyone you’re trying to protect will take the fall for you.”
“Mona Lisa…” Ein Bild flackerte kurz vor seinen Augen auf. Der Abend, an dem er versucht hatte der Domäne etwas über ein längst untergegangenes Schiff beizubringen – und darüber, warum sie alle ebenfalls auf einem ähnlichen Schiff allein auf weiter See fuhren. Er erinnerte sich an das erste Lächeln dieser Frau, das er wirklich hatte sehen können. Sehen – und als echt empfinden. Auch wenn es kurz darauf wieder einbrach und wenig später ganz von Prinz Brückner in den Schatten geschoben wurde. “You are a ghost and a saint to this city as it is. More than that – you are also its life force. Without you, she will break. We’re buying her time. But that’s really all we can do. The longer you are away, the more she will fall apart.”
“Please…” Er hob eine Hand, berührte das Polster. “I need you.”
***
Als Nate wieder zu Herrn Gracht trat war bereits genug Zeit vergangen um die eigentlichen Vorwürfe gegen sich selbst wieder aufkeimen zu lassen, all die Bedachtheit von vor zwei Minuten wegzuwischen. Welche Art von Genie ließ sich von äußeren Umständen, auch wenn es sich dabei zufällig um Menschen – naja, Lebewesen – handelte, aufhalten? Ein Genie hatte das Chaos zu beherrschen! Aber eigentlich lag bereits in dieser Formulierung die Schwierigkeit: be_herrschen_. Die Zeit wurde knapp, wenn ihn seine Instinkte nicht um das letzte Quäntchen Empathie betrogen hatten. Herrschen, echtes Herrschen galt es schnell zu lernen. Schnell zu lehren.
Auf dem Weg zurück zum Wagen sprachen die Männer kein Wort. Ob Gracht ihn gehört hatte wusste Nate noch immer nicht. Und es war ihm noch immer völlig gleichgültig. Herrschen. Sogar das würde am Ende nur Zeit kaufen. Er hatte das hier kommen sehen. Und sich trotzdem darauf eingelassen. ‘Wer jetzt bleibt, der tut das freiwillig. Und er tut es im vollen Bewusstsein über die Konsequenzen seines Bleibens.’ Das hatte er ihnen gesagt. Ihnen gesagt, aber eigentlich sich gemeint. Elender Dickschädel. So oft gegangen. Warum nicht auch dieses Mal.
Im Auto angekommen warf er einen Blick auf sein Handy. Ein kurzes Lächeln schlich sich in sein Gesicht. “Guess I’ll be seeing you tomorrow then.”
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