“Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht.” – Abraham Lincoln
Der dunkle Kellerraum war stickig und feucht. Von draußen drang kein Licht herein. Wenigstens eine Laterne hatte man ihm gelassen, die in einer Ecke leise flackernd vor sich hin leuchtete und so tat, als könne sie die Kälte vertreiben. An einer Wand stapelten sich alte – und bedauerlich leere – Wein- und Bierfässer. Er hätte gern getrunken, um sich über die nächsten Stunden, vermutlich Tage zu retten. Mit Brand aufwachen und das Erlebte auf einen trunken Traum schieben. Wie auch die Tatsache, dass es sich anfühlte, als hätte er das hier schon einmal erlebt.
Hatte er auch. Aber diesmal waren Menschen gestorben, ehe er sich in diesem Keller wiedergefunden hatte. Männer und Frauen, die sein Versprechen damals – wie viele Jahre war das jetzt her? – angenommen hatten, auf ihn vertraut hatten, auf die Zukunft gehofft hatten. Und am Ende nur einen schnelleren Tod als zu verhungern gefunden hatten.
Ob Neal noch lebte? Und Saxa? Was wohl aus Bjarnolf geworden war? Je mehr Namen ihm einfielen, desto mehr regte sich Übelkeit in seiner Magengrube. Zu viele Leute verloren und enttäuscht. Wer war er eigentlich zu glauben, dass ausgerechnet er die Welt zumindest für ein paar Leute ändern konnte?
Ein lautes Knirschen ließ seinen Kopf aus den Gedanken und rasch nach oben schnellen. Seine Augen hatten längst Zeit gehabt, sich an dieses grauenvolle Halbdunkel zu gewöhnen. Er erkannte, dass eine Frau sich die steinerne Treppe zu ihm hinunter bewegte. Sie schlich nicht, ging stattdessen selbstbewusst und mit einem unglaublich geraden Rücken, den er sonst nur in überprivilegierten Männern gesehen hatte. “Mein Name”, sprach sie ihn deutlich noch von der Treppe aus an, “ist Jaska. Es freut mich, eure Bekanntschaft zu machen, Graf Alestan.”
“So gut kennen wir uns schon? Ich muss diese erfrischende Bekanntschaft doch tatsächlich verschlafen haben.” Schon in seinen Knochen spürte er, dass hier irgendetwas sehr, sehr faul war.
Ohne ihre Augen zu sehen wusste er, dass ihr Blick kalt war. “Kein Grund euch selbst zu schmeicheln. Wir kennen uns nicht. Tatsächlich kennt euch niemand hier. Findet ihr das nicht merkwürdig?”
Fand er nicht. “Kein Stück. Wenn ich euch nicht kenne, warum solltet ihr mich kennen.”
“Weil man die örtlichen Adligen doch zumeist vom Namen her kennt, Graf von Nebelhav.” Es gelang ihr spielend, ihre Stimme noch weit kälter klingen zu lassen als die ohne kalten Augen es vermuten ließen. “Lösegeld wollte ich für euch verlangen. Allein lässt sich niemand finden, der mächtig genug ist, welches für euch zahlen zu wollen. Ebenfalls seltsam.”
Irgendetwas metallisches schabte über Leder. Aber was immer sie mit ihrer rechten Hand hinter ihrem Rücken tat, er konnte es nicht erahnen. “Bedauerlich. Ich könnte die meinen anweisen, mein eigenes Lösegeld zu zahlen und wir nennen es einen gelungenen Tag, nicht wahr?”
“Das klingt nach einem hervorragenden Plan! Ich hätte selbst keinen besseren, wenn…” Ein Augenblinzeln später stand sie vor ihm, hob mit der linken Hand sein Kinn und zwang ihn mit erstaunlicher Kraft in Hand und armen, sie anzusehen. “… ich mein Schloss auf solch trügerischen Sanden gebaut hätte wie ihr. Lasst uns sehen, was wirklich wahr ist, Graf.”
Diesen Ton hatte er schon lange nicht mehr gehört. Zuletzt von Neal vor so vielen Jahren.
Lange Zeit in Erinnerungen zu schwelgen hatte er nicht als Jaska einen spitzen, dünnen Dorn in sein rechtes Auge rammte und ihn anzischte. “Sagt mir, wer ihr seid!”
Dann wurde alles schwarz und rot und glockenheller Schmerz schrie durch seinen Kopf.
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